Die Institutionalisierung des Menschen
Nun sind wir einen beachtlichen Gedankenweg gegangen und haben mit den ersten beiden Teilen dieser Reihe einen neuen Blick auf die soziale und moralische Landschaft unserer Kultur gewonnen. Zum dritten Teil hin jedoch haben wir einen großen Sprung vor uns, wenn nicht sogar eine Umkehrung unserer Aufmerksamkeit in eineganz andere Richtung, die zwar in den ersten beiden Teilen schon hier und da angedeutet ist, aber eine noch viel ausführlichere Darstellung benötigt, wenn sie greifbar und nutzbringend werden soll.
Diesen Sprung können wir nicht aus dem jetzigen Stand heraus machen. Es braucht dafür ausreichend Anlauf und innere Vorbereitung, sowohl um das bisher Betrachtete zu verlassen ohne es dabei aus den Augen zu verlieren, als auch um die Notwendigkeit der nächstfolgenden Orientierung zu erkennen und sie zu wollen.
Bevor wir zum finalen dritten Akt kommen, braucht es deshalb diesen „Zwischenakt“.
Wer bis hierhin allzu passiv oder indifferent der Gedankenreise der letzten Texte gefolgt ist, wird umso größere Schwierigkeiten damit haben, sich im Folgenden den notwendigen energischen Ruck zu geben, um sich selbst als Teil des Problem-Knäuels zu begreifen und die problematischen Knoten im eigenen Denken zu lösen.
Wir machen mit diesem Artikel eine Art Zwischenstopp „auf halber Strecke“ als erfrischende und kräftesammelnde Erholungspause auf einer schon erhöhten Aussichtsplattform, bevor wir uns dann im eigentlichen dritten Teil dieser Reihe auf den Weg der nächsten, schwierigeren Wegetappe zu noch unbekannten Höhen – vielleicht zu Gipfeln – aufmachen, von denen wir bereits ahnen können, dass sie noch viel weniger erklommen und kartographiert wurden als selbst die schon reichlich menschenleeren Pfade der zuletzt beschrittenen intellektuellen Plateaus, auf die wir nun zurückblicken.
Lassen wir uns nicht irritieren von diesem mehr oder weniger rhythmisch wechselnden und scheinbar widersprüchlichen semantischen „Mal-auf-mal-ab“: was als intellektuelle oder geistige Vertiefung und Tiefenbohrung motiviert und befeuert ist, entspricht dem Aufstieg nach oben in die Höhe, wenn wir sie anstreben. Tatsächlich ist es ein Ein- und Vordringen ins überschauende und zusammenfassende Geistige, das uns je tiefer hinein auch desto höher hinan führt. Dies lohnt sich, sich immer wieder aufs Neue bewusst zu machen, ganz besonders im ergriffenen Eifer oder in der freudvollsten Hingabe: dass nämlich keineswegs immer ein tieferes oder beharrlicheres Eindringen automatisch auch weiter nach oben führt und einen Aufstieg bedeutet. Wir können zwar stets nur am Anfang und unten am Fuße der Berge beginnen, um uns neues oder fremdes Territorium zu erobern, aber das Herz einer geliebten oder zumindest bewunderten Angelegenheit liegt merklich höher und kann nur erreicht werden, wenn wir bereit sind, die Anstrengungen für eine aufsteigende Bewegung zu unternehmen.
Dies sollte als ausgemacht gelten, auch wenn es nicht immer eindeutig ist. Sonst finden wir uns eines zu späten Tages in der misslichen Lage des hoch aktivierten Stillstands und bestinformierter Verständnislosigkeit wie jener vergeblich Beflissene, der ausrief:
Nun bin ich Armer schlauer als zuvor
Und steh‘ noch vor dem gleichen Tor!
Statt also weiter auf Wunder im Land zu warten, können wir beginnen uns selbst zu verwundern, sobald wir bereit sind Aliceland zu betreten. Dafür müssen wir jenem flüchtigen weisen „Kann-ich“ folgen, das uns durch den haarsträubenden „Kann-ich-nie“-Bau hinab führt. Und zwar so lange und freimütig, bis wir neuen Boden unter den Füßen haben.
Dafür werden wir dann auch erkennen müssen, dass das Vordringen in unerwartete Wiesenlöcher, dunkle Höhlen und andere geheimnisvolle Eröffnungen ein gehöriges Maß an Hingabe und Loslassen fordert, wenn man die Erkundung des Unbekannten nicht zur schmerzhaften Tortur oder betäubenden Überanstrengung machen will. Und was wir loszulassen haben ist vor allem all das, was uns vom Empfinden unserer Unsicherheit und Unkenntnis abschirmt.
Innehalten
Wir wollen hier weder den Fehler machen, echoartig Gesagtes zu wiederholen, noch den, Kommendes vorzeitig vorwegzunehmen. Bei Letzterem würden wir uns bloß dem Laster der Ungeduld ausliefern, die ihre Opfer geistig verflacht und moralisch aushöhlt, was dann häufig zu Ersterem führt, das wir als „sich verstecken hinter Wortwolken“ bezeichnen können – denn das Geistlose findet auch viele Worte – nämlich um sich zu tarnen.
Stattdessen wollen wir eine seltene Disziplin üben: den Moment der Wander- und Atempause voll und ganz bewusst machen und in seiner Eigenart vertiefen. Natürlich vertiefen wir nicht „den Moment“, wir vertiefen unsere Wahrnehmung im und für den Moment.
Das Anliegen dieses gedanklichen Zwischenspiels ist es also, eine Brücke herzustellen von den bisherigen Analysen der äußeren Welt und den Erkenntnissen, die wir aus ihnen ziehen konnten, hin zu jener Welt oder Dimension, in der wir wirksam werden und wenn auch nicht immer schon Essentielles bewegen so doch zumindest von Essentiellem intensiver berührt und bewegt werden können. Wir sind jetzt an dem Punkt, an dem zurecht die Fragen auftauchen, wie es denn nun weitergehe, was denn nun zu „tun“ sei, wie man denn nun mit all dem umgehen oder was man daraus gewinnen und ableiten könne. Um diesen Fragen in angemessener Redlichkeit und Ausführlichkeit begegnen zu können, brauchen wir noch etwas Vorbereitung.
Dazu werden wir in diesem Zwischen-Artikel einmal die wichtigsten Erkenntnisse insbesondere der ersten zwei Teile – im Grunde aber aller vorhergehenden Artikel der letzten 24 Monate – zu einigen handfesten Schlussfolgerungen zusammenziehen und auf eine weiterführende Linie bündeln im oben beschriebenen Sinne von Vertiefung, Erhöhung und Selbstbezug.
Darin liegt ein Richtungswechsel, der sich für die meisten Leser und im Verhältnis zu allem der aktuellen Kultur Angehörigen als völlige Kehrtwende darstellen wird. Ein Richtungswechsel des Denkens und Wahrnehmens von der Außenorientierung zur Innenorientierung und damit in Folge auch einer Neupriorisierung vom verinnerlichten Primat der Welt zu einem selbstgefundenen Primat des Bewusstseins und somit vom Fokus auf Wirkungen zum Fokus auf Wirklichkeit.
Das ist, was wir heute zu unserer Rettung brauchen. Das Chaos im Außen ist grenzenlos und total. Aber nicht im Inneren. Nur dass der Weg dorthin für die meisten verschüttgegangen und durch fehlende Übung schwierig geworden ist. Diejenigen, die sich berufen fühlen, werden ihn suchen, erkennen und gehen können.
Und so scheinen es einige Leser dieser Artikel zu schätzen, dass deren gedankliche Ausrichtung sich stets zum Unwandelbaren und verlässlich Gesetzten hin wendet und orientiert, auch von noch so verworrenen und verwirrenden Phänomenen ausgehend. Dass solche Texte damit zumindest erst einmal wieder daran erinnern, dass es diese Dimension überhaupt gibt und sie über das beständig suchende Denken und Neu-Begreifen zugänglich wird. Dies ist, wessen wir in all dem sintflutartigen Wandel und bis hin zum Tempelbeben am dringendsten bedürfen: eine verbindliche gedankliche, daraus dann auch moralische und schließlich emotionale Verankerung in dem, was sich nicht und niemals wandelt, also in dem, was in aller Veränderung unverändert bleibt.
Jeder, der sich hat von den großen Umwälzungen berühren und bewegen lassen, wird in dem Maße auch allem voran dieses wachsende Bedürfnis verspüren und sich Orientierung wünschen, wo weit und breit Desorientierung und Dysorientierung um sich greifen.
Das Aufsteigen am Berghang
Der aufmerksame Leser möge bedenken, dass es genauso schwierig oder sogar schwieriger ist, diese Texte zu lesen als sie zu schreiben. Den bekannten weil gegangenen Weg zu beschreiben ist – subjektiv betrachtet – eine viel geringere Anstrengung als sich den steilen unbekannten Berghang nur mit Hilfe dieser Landkarte oder Wegbeschreibung hinaufzuarbeiten.
Wir haben mit den vorhergegangenen Artikeln ein großes dunkles Tal durch Einsichten hinter uns gebracht und nun bereits viele Höhenmeter gewonnen mit neuen, hilfreichen Aussichtspunkten und Erweiterungen der Sicht über die Landschaften, in denen wir – unten – verstrickt und orientierungslos, meist auch im Schatten und Regen standen. Nun aber müssen wir den Blick mehr als zuvor auf unsere eigenen Füße lenken und auf den unmittelbaren Weg vor uns, denn von hier ab wird der Weg schmaler – viel schmaler, kaum erkennbar und steinig. Nach oben hin verliert sich die Aussicht schnell in Unwägbarkeiten und Nebel. Wir können nicht unterscheiden zwischen den Konturen des Berges oder eines Pfades und den Formen, die uns unser Auge bloß vorgaukelt, wenn wir glauben, im Diffusen und Verschwommenen Vertrautes oder Greifbares zu erkennen. Was wir vielleicht schon sehen, zumindest ahnen können, ist, dass es noch weiter nach oben hin verspricht, heller und klarer zu werden und dass wir also mit jedem Schritt aufwärts ein Stück Dunkelheit und Verwirrung hinter uns zu lassen erwarten können.
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Version 11.6.22 (vollständig korrigierte Version)
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