
Erfüllung
Was erfüllt uns?
Wir haben jetzt mit den ersten beiden Teilen dieser Trilogie unter der Überschrift „Zeugen und Bewusstsein“ einen langen Weg durch ein stellenweise recht dunkles Tal und dichtes Dickicht hinter uns. Nun aber können wir den Blick wieder weiter nach vorne schweifen lassen und nach oben richten, um zu sehen, wofür wir diese Mühen über verwickelte und heikle Pfade auf uns genommen haben. Und wofür diese weit gegriffene Überschrift über allen drei Teilen steht.
Wer es durch die ersten beiden Teile dieser Trilogie geschafft hat, ohne sich von Primitivem, Derbem, von Anrüchigem oder frivol Anmutendem verscheuchen oder vereinnahmen zu lassen, der hat das Wichtigste bereits erreicht: eine Welt des Unsichtbaren wurde sichtbarer, Verworrenes übersichtlicher, Zweideutiges eindeutiger und Ungehöriges vernehmlicher gemacht.
Was aber ist die Hauptsache dieses Textes, die sich wohl bisher noch gar nicht gezeigt hat? Wozu der ganze Aufwand? Wonach suchen wir hier eigentlich?
Wohl doch nach dem, was uns der verschmitzte und ränkeschmiedende kleine Gott Eros mit seinen Bilderwelten und Phantasmen ankündigt und verspricht: nach „der anderen Seite“, die uns ergänzt, vollständig macht und eine höhere Ganzheit finden lässt.
Woran aber erkennen wir, dass wir „vollständiger“ oder „ganzer“ sind? Das sind doch sehr abstrakte, wenn nicht gar metaphysische Konzepte. Wir würden wohl eher sagen, dass wir „glücklich“ sein wollen. Wir suchen ja immer das, von dem wir glauben, dass es uns „zu unserem Glück noch fehlt“, von dem wir glauben es zu brauchen, um glücklich zu sein. Was aber meinen wir mit „glücklich“? In erster Linie doch dies: nichts mehr entbehren, keinen Mangel mehr haben – also erfüllt sein.
Nur wenige Menschen werden von sich behaupten, sie seien auf der Suche nach etwas Höherem in ihrem Leben. Die meisten leben in der nie reflektierten Überzeugung, dass es etwas Höheres als das, was sie kennen, also letztlich etwas Höheres als sie selbst für sie nicht gibt und nicht geben kann. Daher suchen sie auch nicht danach.
Und dann gibt es diejenigen, die ihr „Höheres“ oder sogar „das Höhere“ schon meinen gefunden zu haben oder zumindest zu kennen und deshalb nicht suchen. Tatsächliche Sucher nach dem Höheren gibt es nur wenige und in ihren unbeholfenen Anfängen fallen sie auch noch allzu leicht jenen Bescheidwissern und Glaubens-Missionaren zum Opfer, die irgendeinen selbstgebauten Dorfbahnhof als große metaphysische Endstation verkaufen.
Auf der Suche nach Erfüllung aber ist jeder, in dem noch ein Hauch von menschlichem Leben steckt. Was von uns aber soll „erfüllt“ werden? Doch nicht nur unser Magen, was die reinste Sysiphos-„Erfüllung“ wäre, mit der wir spätestens nach sechs Stunden wieder von vorne beginnen müssten, weil sie nichts als vorübergehende Füllung ist. Das kann es nicht sein, so wie auch alle anderen körperlichen Bedürfnisse immer nur für einige Zeit „erfüllt“ sein können und dann wieder als Bedarf, Verlangen oder unruhige Suche aufflackern. Körperlich können wir „Glücklichsein“ nur als den einen Ausschlag einer ständigen bi‑polaren Pendelbewegung definieren, in der es immer auch die Gegenrichtung gibt, die wir dann als „Unglücklichsein“ empfinden müssen. Wer wird sich damit schon zufrieden geben, wenn er dies einmal durchschaut hat?
Jeder der sich aufrichtig mit der Frage nach der Bedeutung von „Glücklichsein“ und „Erfüllung“ beschäftigt, wird feststellen, dass er sie nicht kennt und dass er nicht weiß, was das eigentlich ist, was er da sucht. Und so ist auch jeder Versuch, es zu finden, nichts weiter als ein zielloses Herumtappen im Dunkeln ohne Wissen über einen Weg. Diese Begriffe scheinen etwas zu enthalten, das uns wichtig und von Bedeutung ist, wir können dies aber nur gefühlsmäßig erahnen, solange wir keine mentale Landkarte haben, auf der wir das, was uns als Ziel des Lebens so wichtig erscheint, verorten könnten. Dies ist der Hauptgrund, warum alle Bemühungen und Aufwände, die wir betreiben, vergeblich sind.
Wir müssen uns fragen, was „Erfüllung“ eigentlich meint. Er-füllung bedeutet letztlich Vollendung, „Vollführung bis zum Ende“, also vollständige Ausführung oder Entfaltung bis zur Vollständigkeit. Erfüllungerleben wir nicht dadurch, dass wir gefüllt werden oder bloß Fülle erfahren, sondern indem wir Vollendung und Vervollständigung erleben, dass also etwas in Gänze verwirklicht, das heißt be-wahrheitet wird.
Wenn es nur darum ginge, dass all unsere zwischenmenschlichen Bedürfnisse „erfüllt“ werden müssten, damit wir glücklich sind, dann würde es darum gehen, möglichst viel Anerkennung, Verbundenheit, Zugehörigkeit und Bedeutung durch andere zu erleben. Das mag schon tragfähiger sein als nur die Erfüllung körperlicher Bedürfnisse, aber von einer Verwirklichung und „Bewahrheitung“ unserer selbst kann dabei auch nicht die Rede sein. Tatsächlich würden wir damit nicht mehr als die Grundbedürfnisse eines Kindes erfüllen und statt Verwirklichung unseres Inneren hätten wir bloß Anerkennung von außen. Wozu aber ist das Kind ein Kind? Worauf läuft das Kindsein hinaus? Zu was ist es mit all seinen Bedürfnissen und Abhängigkeiten die Vorstufe? Worin liegt die Erfüllung der Kindheit und welche Art der Erfüllung folgt auf sie?
Nun, wir könnten lernen, Gefühle von Anerkennung, Verbundenheit und Bedeutung zu verinnerlichen, in uns zu bewahren, so dass wir nicht mehr darauf angewiesen sind, sie immer aufs Neue von außen geliefert und nachgefüttert zu bekommen. Dann fühlen wir uns – zumindest im sozialen Bezug – gesehen, anerkannt, verbunden, zugehörig und bedeutsam, auch dann noch, wenn wir es nicht mehr unmittelbar oder sogar gar nicht mehr von außen bestätigt und bewiesen bekommen.
Das stellt schon eine gewisse stabilere Erfüllung her, denn diese tragen wir dann tatsächlich in uns und erleben nicht mehr jenen Mangel und jene „Löcher“, die „gestopft“ werden müssen, wenn uns das Gefühl für uns selbst fehlt.
Dafür müssten wir jedoch lernen, Gefühle in uns zu bewahren, was zunächst nur möglich ist als Erinnern: wir können lernen, Gefühle wiederzufinden, indem wir sie erinnern bzw. aus der Erinnerung hervorrufen. Damit ist nicht so sehr das Zurückschauen auf vergangene Ereignisse gemeint, was nostalgische Nachklänge in uns wachruft oder durch Bilder ein vages Echo alter Emotionen hervorbringt, sondern die Er-Innerung, also Ver-Innerlichung dessen, was das Gefühl immer wieder frisch und neu erzeugt: eine freundliche, wohlwollende und umfassende Aufmerksamkeit, die uns zuteilwird, d.h. die wir empfangen. Von wem? Zunächst von anderen, später aber aus einer Quelle, zu der wir auf geheimnisvolle Weise nur über uns selbst Zugang erlangen.
Erfüllung könnte also durch Aufmerksamkeit möglich werden. So wie wir uns subjektiv-psychisch selbst nur in dem Maße als wirklich erleben, in dem wir uns unmittelbar bemerken, so bewahrheiten wir uns auch erst durch Wahr-Nehmung.
Ein Erfüllt-Sein von Aufmerksamkeit – wo auch immer sie herkommt – ist eine ganz andere Dimension von Erfüllt-Sein als sie durch gutes Essen, schöne Sinneseindrücke, ein interessantes Buch, bewegende Musik oder sonst irgendeinen ästhetischen Genuss möglich wäre. Es ist auch etwas gänzlich anderes als jene abhängige und kurzfristige „Erfüllung“ durch Anerkennung, Zuwendung oder Wohlwollen anderer uns gegenüber.
In-Aufmerksamkeit-Sein oder In-Beachtung-Sein füllt zunächst keine Löcher in uns aus, hebt keines unserer Defizite oder Mängel auf und löst keinen unserer inneren oder äußeren Konflikte. Ganz im Gegenteil, sobald wir uns selbst mehr beachten und betrachten, werden unsere Schwächen, Unvermögen, irrationalen Ängste und Vermeidungsmuster nur umso deutlicher sichtbar für uns und damit umso unangenehmer und verstörender. Es erscheint uns so, als würden unsere Mängel dadurch wachsen, dass wir uns selbst in den Blick nehmen.
Zunächst werden dadurch alle latenten Minderwertigkeitsgefühle, Selbstverleugnungen und Zweifel deutlicher und wir geraten umso mehr in Verzweiflung und Unsicherheit. Wir können jedoch auch mit klarem, logischem Denken feststellen, dass unsere innere Zerrissenheit und Schwächen wohl kaum erst und nur durch unser neues, genaueres Hinsehen entstanden sein können. Es dürfte erleichternd sein und Raum für Optimismus geben, wenn wir sehen können, was das tatsächlich ist, das uns die ganze Zeit lähmt, uns emotional einknicken lässt oder verunsichert, und dass es von diesem Standpunkt des Betrachtens und Erkennens aus sogar veränderbar sein könnte.
So erlöst uns die Aufmerksamkeit für unsere Mängel von deren verklebter Schwere und diffusen Belastung und macht uns leichter. Sobald wir aber leichter sind, können wir auch leichter leben, Probleme leichter lösen und Defizite leichter beheben, z.B. indem wir leichter lernen, erkunden, Neues ausprobieren oder Hilfreiches umsetzen können.
Warum ist das so? Warum ist „Aufmerksamkeit-Bekommen“ oder ein noch so kleines und kurzes „In-Beachtung-Sein“ nicht nur viel erfüllender als alles, was wir „konsumieren“ können, sondern liegt offensichtlich auf einer überhaupt ganz anderen Qualitäts-Stufe von Erfüllung? Was „bekommen“ wir dadurch, wenn doch zunächst einmal substanziell gar nichts hinzu zukommen scheint?
Was wir durch Aufmerksamkeit allein schon „bekommen“ ist eine Form der Bejahung, der Akzeptanz, des Angenommen-Werdens. Aber diese hilft und befähigt uns noch nicht. Keines unserer „Probleme“ wird weniger oder auch nur leichter dadurch, dass es bloß „akzeptiert“ wird. Was Aufmerksamkeit aber in uns auslösen kann ist, dass wir zu all dem, was uns belastet und schwer macht, eine hilfreiche Distanz bekommen, so als würden wir allem Schweren und Beschwerenden, das uns „runterzieht“, ein Stück enthoben. Wohin enthoben? In ein anderes Bewusstsein unserer selbst.
Dieses Enthoben-Werden, dessen entlastende Wirkung jeder kennt aus wohlwollenden Gesprächen oder auch nur aus den Momenten, in denen jemand auf schlichte, aber freundliche und zugewandte Weise „für einen da ist“, dieses Enthoben-Werden funktioniert nur, wenn wir es wahr- und annehmen. Man kann jemandem so viel Aufmerksamkeit, Zuwendung, Freundlichkeit, Wohlwollen und sogar Unterstützung zukommen lassen, wie man will – wenn der andere diese nicht bemerken und wahr–nehmen kann, hat er davon gar nichts. Der Angelpunkt der Erleichterung, Ent-Hebung und Ermutigung liegt also keineswegs dort, von wo aus freundliche Aufmerksamkeit gegeben, sondern offensichtlich dort, wo sie empfangen wird.
Weder das Schenken von Aufmerksamkeit noch die Aufmerksamkeit selbst wirken lösend und erhebend, sondern das Empfangen von Aufmerksamkeit.
Wer hat nicht schon die befremdliche Erfahrung gemacht, dass er jemandem mit aller Kraft versuchte zu zeigen und zu beweisen, wie sehr er ihn achtet, schätzt, bejaht, mag, bewundert, unterstützt oder liebt – jedoch erfolglos, weil der andere nicht fähig oder nicht bereit war, eben diese Zuwendung auch zu empfangen und nachzuempfinden. So eine Vergeblichkeit kann beide Seiten in die Verzweiflung treiben, wobei meist derjenige am meisten (oder sogar als einziger) leidet, dessen Zuwendung ins Leere läuft und beim anderen nicht ankommt. Die objektiv größere Beschwernis und Trostlosigkeit, um nicht zu sagen: Hoffungslosigkeit liegt jedoch bei denen, die zu sehr abgeschottet sind und für das, was nottut, so wenig empfänglich sind, dass sie nicht einmal dieser Einschränkung, den Mangel und die Entbehrung wahrnehmen können. Es kommt nicht selten vor, dass derart hoffungslos Abgeschottete sich auf paradox anmutende Weise durch positive, wohlwollende Zuwendung sogar bedroht und in diffuser Weise gefährdet fühlen, weil diese nämlich zunächst ihre Abschottung, ihren Mangel und ihre Unerreichbarkeit selbst spürbar machen, was eben jenen Schmerz auslöst und ins Bewusstsein holt, von dem sie sich durch ihre Generalbetäubung und Isolierung abtrennen konnten. Deshalb können sie scheinbar so viel leichter alle gewohnte Schwere, Last und Geringschätzung aushalten und wehren sich gegen jede Zuwendung, Erleichterung und Hilfestellung aus dem basal‑instinktiven Reflex der Schmerzvermeidung heraus.
Einer ähnlichen Selbst-Abkopplung mit hohem Verzweiflungspotenzial unterliegen jene, die es sich zur „spirituellen Disziplin“ oder „geistlichen Praxis“ gemacht haben, sich (oder anderen) Aufmerksamkeit zu geben, dabei aber die Position des Empfangenden von Aufmerksamkeit zu vermeiden. Diverse „Achtsamkeits-“ oder Meditationslehren mit dieser Einseitigkeit sind systematische Wege zum emotionalen Burnout und zur psychischen Selbstentfremdung. Den wenigsten Menschen mit solchen Vorlieben ist klar, dass ihre Faszination für zusammenschnürenden Fokus und angestrengtes Überwachen im Stile eines kontrollierten, sich-zurückhaltenden Beobachters aus ihren biografischen Konditionierungen und Schutzmechanismen entsteht, also nichts mit Entwicklung, sondern mit etablierten Schutz- und Überlebensmustern aus der Vergangenheit zu tun hat. Das kann man erst bemerken, wenn einem auffällt, um wie viel schwerer es einem fällt, wenn nicht sogar unmöglich ist, Aufmerksamkeit zu empfangen.
Aufmerksamkeit nicht empfangen zu können ist eine schwere Form der Selbstverleugnung. Und es sind gerade die Menschen mit solch einer starken Selbstverleugnung und massivem Mangel an Selbstwertwahrnehmung, die an ihrem kindlichen Glauben festhalten, sich und „die Welt“ retten zu können, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Zuwendung, Kraft und „Liebe“ an andere verausgaben – bis zum völligen Ausbrennen und psycho-somatischen Kollaps, was für sie die ultimative Selbstaufopferung ist, von der sie jedoch nicht wissen, welchem Gott sie sie eigentlich darbringen.
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Version 28.7.2025
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